Leseprobe

Aus Kapitel 2 "Kleinstadthelden"

Glück gehabt: Das Zimmer im Hotel Lakshmi zwischen Bahnhof und Markt an einem Abzweiger der main street ist großräumig und hat sogar Terrasse. Tags zuvor bewohnte ich noch einen bunkerartigen Raum mit Milchglasfenstern, die sich nicht öffnen ließen. Eine riesige Turbine an der Außenwand blies donnernd Luft in den Raum. Der Orkansimulator war mir vom Hotelmanager als Sensation gepriesen worden. Dummerweise funktionierte der Deckenventilator nicht, und so war ich entweder darauf angewiesen, den Muff des Raumes unter dem Dröhnen eines Propellerflugzeugs mit der gekühlten Außenluft zu verwirbeln, oder brachial zu schwitzen.

Hier nun aber war der holzfurnierte Deckenventilator stufenlos verstellbar. Es gab zwar Stromausfälle, doch war die Kühle durch wahlweise zarten Windhauch oder stürmische Frische ein erquicklicher Luxus. Das Doppelbettzimmer hatte zwei Fenster, Moskitoschutz und Blümchengardinen. An der Lichtschalterbox neben dem Eingang drohte man sich nicht wie so oft einen Stromschlag zu holen, sie war beschriftet, und ich verwechselte nicht (dies hat man bisweilen erst am Abreisetag intus) das Deckenlicht mit dem Bett-, Außen- und Nachtlicht, das es hier sogar auch gab. Shiva und Parvati grüßten auf einem alten Kalenderbild von ihrer Hochzeitsreise im Himmel.

Zum Hotel gehörte auch ein Restaurant. Den Besitzer, einen dicken, älteren Brahmanen, der auf dem Kassensockel am Eingang saß, hatte ich bei der Zimmersuche nach einem Hotel gefragt. Er winkte mich nach nebenan, wo sein Sohn in einem gesonderten Eingang unter einem Hausaltar hinterm großen guest book vor einem Ventilator saß. Er führte mich über einen offenen Innenhof, in dem Wäsche von Säule zu Säule hing und Topfpflanzen in Ensembles standen. Eine Großmutter saß auf einer Bastmatte, Kinder sprangen umher. Eine Etage höher, von wo man in den Innenhof blicken konnte, gelangten wir ins Zimmer. Die geräumige Terrasse bot weite Sicht auf die Kreuzung, das Zimmer war eine Wohltat, und das Haus durchflutete ein sympathischer Segen. Mit dem Bus war ich angereist, mit dem Zug sollte es weitergehen. Der Reiseführer erwähnte nur ein naturhistorisches Museum.

Verschwitztes Erwachen am Nachmittag, obwohl der Ventilator schnurrte. Ich vernahm eine Melodie, die aus dem Van kam. Die Drehungen musizierten. Sehr seltsam das, doch ich erlebte die naiven Urmelodeien auch in stärkeren Stufen und auch an anderen Orten. Im Bad war grad kein Wasser, es herrschte die nachmittägliche Wassersperre.

Meinem Gespür für Chai folgend nahm ich nicht die Hauptstraße, sondern einen kleinen Abzweiger vom Platz. Auf Kisten und Säcken dösten Geschäftsbesitzer, Alte unterhielten sich, Bidies rauchend, in Gruppen, Rikschafahrer schliefen akrobatisch über ihren Fahrgestängen hängend, und auf erhöhten Treppensimsen spielte man Karten. Der Ort war in halbwachem Zustand, es schien noch zu früh und zu heiß für Erledigungen.

Eine mit Holzplanken und Bambusstangen über dem Schacht eines Abwasserrinnsals leicht in die Straße ragende Bude erkannte ich als Chaishop. Ein paar Stufen hinauf setzte ich mich an einen der beiden Holztische. Unter dem Teekessel brannte Feuer, doch niemand war da. Ich wartete eine Weile, räusperte mich, und siehe da, im hinteren Raum erhob sich ein Greis. Er hatte gedöst. Kommt da so ein Wessi reingetrampelt. Doch kein Problem, der Alte machte sich an den Kessel. Mit knöchrigen Fingern hantierte er mit Kanne, Wasser, Milch, Tee, Tasse, Löffel, Zucker, Zutaten, Sieb und Glas, und hob beim Einschenken des Chai den Arm mit der Karaffe weit nach oben, so dass der Tee in hohem Bogen ins Glas fiel, um den Zucker im Glas aufzulösen.

Die Seelenruhe des Alten wirkte ansteckend. Mal kreuzte ein Hund die Straße, mal ein Mensch, mal langsam wippend eine Kuh. Zwar geht es im Land ja generell ruhig zu, doch bin ich als Reisender viel zu oft in der Unrast des Sightseings oder Reisens. Es gibt kaum Parks zur Erholung, und die Straßen bieten oft nicht mal am Rinnstein Platz für Pausen, da alles besetzt ist. Gemütliche Kneipen gibt es nicht, und es ist nicht üblich, in Restaurants länger als bis zur Sättigung zu verweilen. Der Alte kam mir vor wie ein Einsiedler.

Zurück am Platz des Hotels, die Hitze ist schon erträglicher und die Straße belebter. An der Main Street drängeln sich Menschen, und die zweispurige Straße ist laut. Ich streune durch den Stadtteil, und jeder Blick eröffnet eine je eigene Welt. In den nur ein paar Meter breiten Shops wird gekocht, gebügelt, genäht, gehämmert, geschweißt, gehandelt, gezankt, gekauft und geschwatzt. Schuster klopfen Leder am Straßenrand, Sarees flattern im Wind von Ventilatoren, Eingänge werden gefegt, Radios repariert und Männer zwischen parkenden Autos rasiert. Alle paar Meter will ich in der Überrumpelung der Sinne innehalten und mich in die Stilleben platzieren, will die Momente in meinem Geiste wie ein Maler verewigen.

Chaiboys springen mit Teekanne und Gläserset herum, Fruchteis wird fahrbaren Kühlboxen entnommen, Frauen mit Ballen auf dem Kopf rufen sich den Weg frei, Zigaretten werden auf Holzkisten auch einzeln angeboten, Berge von Kleidungsstücken liegen sortiert zur Straße hin, Nüsseverkäufer tragen ihren Rösttisch auf dem Kopf durch die Menge, Kämme und Kurzwaren liegen auf bunten Stoffen am Gehweg, Räucherqualm dringt aus Tempeleingängen, Krüppel recken bettelnd die Hand, Kühe fressen Abfall und Hunde dösen mitten auf dem Gehweg. Shopbesitzer lesen auf Holzpodien Zeitung, Frauen probieren an Läden Armreife an, zwischen den Shops sitzen Bidi-Verkäufer und Schuhputzer auf Schemeln. Auf dem Rücken schleppen Männer schwere Kisten, aus einem Schneiderladen surrt es, Gemüse schwimmt in großen Pfannen im Fett, und Musik erklingt wirr von überall her gleichzeitig. Mutig aufgetürmte Süßigkeiten locken auf Wägen am Straßenrand, hellgelbe und ölig schimmernde Kugeln, glasurüberzogene Kandiswürfel und in Milch schwimmende Honibän. Neben Restaurants mit großen Kochkesseln zur Straße hin sind Kioske, Ziehbrunnen und fliegende Händler. Endlos viele Mofas parken an den Bürgersteigen, jeder Quadratmeter wird genutzt. Bisweilen muss man sich im improvisatorischen Durcheinander ducken, an Baustellengruben vorbei steigen und tückischen Bodenvertiefungen ausweichen.

Auf dem Markt schützen an Bambusstangen befestigte Sackleinen gegen die Sonne. Dicht nebeneinander sitzen Bauern und Bäuerinnen vor ihren Waren auf dem Boden. Aufgeschnittene Papayas, Mangos, Ananas und Melonen werden mit Wasser besprenkelt, Gemüse liegt aufgetürmt auf Karren, Kräuter in Körben, Getreide in Säcken, und die Verkäufer legen Bleigewichte in die Handwaagen. Eine Ziege wird von einem Berg Tomaten verscheucht, Gemüsefrauen besingen ihre Ware, Mädchen knüpfen Tempelblumen, Kokosnüsse werden geknackt, und der Staub der Straße vermengt sich mit den Rufen der Marktschreier zu einer wirren Melange. Die Waren werden in altes Zeitungspapier gewickelt und mit Schnur verpackt. Druckerschwärze wird so zum Geschmacksverstärker.

An mobilen Kochstudios röstet Leckeres für Zwischendurch, Zuckerrohrsaft wird mit großen Zahnradapparaturen gepresst, Spiegeleier gibt es in geröstetem Brot mit Zwiebeln und Kräuterbombe, Chappatifladen werden in der Luft geklatscht und mit Linsen und Bananen angeboten. Es riecht spannend. Ein Koch kippt Soßenpaste in kugelförmig Frittiertes. Interessant, ich stelle mich an. Kerosinlampen brennen über dem Wagen, es dämmert und die Menschen genießen die relative Kühle. Männer in weißen Kaftanen und Frauen in leuchtenden Sarees. Sie tragen Kinder an der Hüfte oder führen sie im Schlepptau. Mit mir in der Reihe warten junge Leute, die auszugehen scheinen. Man trifft sich mit Freunden, grüßt Bekannte und platziert sich zum Essen an Sockeln in Eingängen oder isst im Stehen. Der heiße Kugelteig ist getränkt von einer extrem sauren Soße, die zugleich scharf ist. Ein explosives Gemisch, sowohl knackig als auch saftig, es erfrischt und fordert den Gaumen heraus.

Wasserbüffel ziehen schwer beladene Karren über die Straße, trotz der Enge wird niemand an den riesigen Hörnern aufgespießt. Klingelnd sausen Fahrradfahrer vorbei, oft sitzt die Familie hinten mit auf, während schwere Milchkannen am Lenker hängen. Autos hupen, mit Säcken beladene Karren werden zu Fuß geschoben, und über der Straße hängt ein Wirrwar elektrischer Leitungen, in denen ab und an ein hängengebliebener Drache baumelt. Es gibt kaum Ampeln, das Vorankommen zu regeln. In der chaotischen Ursuppe der Ordnung setzt sich vielmehr der Lauteste und Geschickteste durch. Die Straße zu überqueren ist abenteuerlich, doch kommen alle geschmeidig aneinander vorbei. Shanti shanti, immer mit der Ruhe. Man sollte mitten auf der Straße getrost Kopfstand machen können. Ich kraule eine entgegenkommende Kuh zwischen den Augen.

Mal wieder einen Mango-Juice aus purer Frucht trinken. Es gibt nichts Leckeres auf Erden als frisch geerntete Mango. Auch Inder erlebt man immer wieder begeistert ob des immer aufs Neue überwältigenden Geschmacks. Es ist erstaunlich, dass es keine Mango-Göttin gibt. Der Verzehr der Frucht ist nicht leicht, denn der unhandliche Kern ist voluminös, das klebrige Fleisch ist glitschig, und nach unbeholfener Schalenentfernung musste ich oft erst mal duschen. Doch es gibt eine versierte Methode des Verzehrs: Man drücke die reife Frucht, quetsche das Innere in der Schale, man drücke und quetsche es solange, bis sich das Innere flüssig anfühlt. Dann beiße man ein Ende ab und trinke den Inhalt im Beutel der Schale. Genial einfach. Beutel fallen lassen, eine Kuh wird kommen.

Überaus geschickt sind Inder auch beim Trinken eines Bechers Wasser: Man kippt sich das Wasser beispielsweise in einem Restaurant einfach in den Rachen, ohne mit den Lippen den Becher zu berühren. Beim Versuch, dies nachzuahmen bin ich mehrfach fast ertrunken, denn ich musste erst mal lernen, zunächst den Rachenmuskel zu schließen. Vor dem Trinken lässt sich das ansteckungsneutral zugenommene Wasser genüsslich durch den Gaumen spülen.

Am lauen Abend später auf der Terrasse, die Geschäfte haben geschlossen, nur wenige Menschen, Kühe und Hunde sind noch unterwegs. Ein Gecko kriecht aus dem Gebälk und verharrt minutenlang an der Wand, ehe er ruckartig weiterläuft. Gegenüber steuern drei junge Männer den Brunnen an. Einer drückt den Pumparm, und schon hält ein anderer gebückt den Kopf unter den Strahl, lässt sich das Wasser übers Haupt schwappen und schüttelt die Haare. Dem dritten im Bunde füllt er einen Kübel mit Wasser und kopfüber kippt dieser es sich über den Kopf und die Kleidung. Es beginnt ein intensives Bad. Der junge Mann unterm Hahn reibt sich Seife in die Haare und löst dann den Pumpenden ab. Der darf nun unter den Strahl. Erquickungsrufe von allen Dreien. Ist es die wöchentliche Grundwäsche? Sie spaßen und springen vergnügt umher. Flink lösen sie sich mit dem Pumpen ab und hantieren geschickt mit dem kostbaren Nass. Nach der Kopfwäsche ziehen sie die Hemden aus, um sie auf dem Steinboden mit Seife zu waschen. Kneten, wringen und entwässern. Danach genussvolles Einseifen der Oberkörper mit Schrubben und Seifenentfernung mithilfe der Karaffe und am Brunnen. Die Aktion wirkt wie ein gut choreographiertes Tanzstück. Nun Hosen runter. Sie kneten und klopfen sie mit Lauge auf dem Boden und quetschten sie auch mit den Füßen. Zwischendurch wieder Ganzkörperdusche. Die Beine werden geschrubbt, die Zehen gesäubert und die Unterhose wird am eingeseiften Körper geknetet. Nach gründlichem Abwaschen der Seife ziehen sie, ohne sich abzutrocknen, die nasse Kleidung an, kämmen die Haare, wässern zuletzt noch mal die Schuhe und ziehen davon.


Tags darauf eine religiöse Ekstase.  ...