Besprechung in der FAZ
am 25. Mai 2023 - hier online - Vom Ballast der Herkunft
„Indien ist mehr ein Zustand denn ein Land“, sagt der Soziologe und Indienadept Matthias Groll. Wie er das meint, führt er in vier Kapiteln aus, die exemplarisch für Indiens Kaleidoskop der Ideenwelten, Ideologien und die „Dialektik des Heiligen“ stehen. „Zeitreise mit Bus“ entführt in vergangene Kultstätten wie die Ajanta-Höhlen, „Kleinstadthelden“ in die provinzielle Gegenwart, „Benares liegt am Ganges“ ins spirituelle Zentrum Indiens, und „Himalaya“ steht für den typischen Ort der Sadhus und Sucher nach dem „true spirit“. Im Flow der Reise , die metaphorisch im Quellgebiet des Ganges endet, dekonstruiert Groll die Rede von der Rückständigkeit, Standards und Stereotypen und den „Ballast von Herkunft und Individualität“. Neben anregenden Exkursen zu Indiens Kosmologie, zu Karma und Kastendenken erörtert Groll die Folgen von Kolonialismus und Kapitalismus und erfährt bei Puja-Zeremonien Alternativen zu Verstandeslogik und Vernunftwissen. Ein Pluspunkt ist Grolls teilnehmende Beobachtung an Festen, Kulturpraxen und spirituellem Neuland. Der Autor hat dabei das Herz offen für das Numinose und Unerhörte, aber auch für diesseitige Topspots der Armut, wenn er den „Kontakt zum Allwissen“ in Slums und bei Globalisierungsverlierern sucht. So entsteht zwischen Daseinsfeier und Elendsdichte ein komplexes Indienbild, das auch Themen wie Hindunationalismus, Heiratsdruck, Sozialkontrolle und Klimasünden benennt. In Interaktionen mit fliegenden Händlern, Kameltreibern, Müllsammlern oder Wandermönchen gelingt es Groll zuletzt, die westliche Sozialisierung abzulegen und einen „Handschlag mit dem unbekannt Mystischen“ einzugehen.
Reaktion aus Indien
Mit K. Sharma kam ich über Twitter zusammen. Er lehrt deutsche Sprache in Delhi, interessierte sich für das Buch, ich schickte es ihm und dann schrieb er:
"Ich gratuliere Ihnen. Es ist einfach, in einem Luxusresort zu leben und Hinduismus als Kostümdrama zu betrachten. Sie hatten den Mut und die Geduld, die Vielfalt des Hinduismus vor Ort zu erleben. Ein faszinierendes Buch von einem Suchenden. Sehr empfehlenswert!"
Und wenig später: "Ich habe ein paar Passagen noch einmal gelesen. Sie haben sehr schön Geschichten aus den Hindu-Schriften über verschiedene Götter erzählt. Unglaublich finde ich, wie locker Sie scharfes Essen gegessen haben und sich nicht über Hitze, Schmutz und Gestank beschwert haben". - Sei angemerkt, dass Hitze, Schmutz und Gestank durchaus anstrengend sein können, dass die Melange des prallen Lebens aber überaus inspirierend ist.
Besprechung im Südasien Magazin
Erschien im Oktober 2022 im Südasien Magazin - als PDF
Von Christian Leidig
Es ist erstaunlich, dass es in Indien keine Mango-Göttin gibt. Denn frisch geerntete Mangos schmecken in Indien einfach göttlich. Der Verzehr der Frucht ist nicht leicht, denn das klebrige Fleisch am unhandlichen Kern ist glitschig. Nach unbeholfener Schalenentfernung, so der Autor Matthias Groll, geht man lieber erst mal duschen. In seinem Buch „Wenn Shiva tanzt, wackelt die Welt“ beschreibt er eine versierte Methode des Verzehrs: „Man drücke die reife Frucht, quetsche das Innere in der Schale, man drücke und quetsche es solange, bis sich das Innere flüssig anfühlt. Dann beiße man ein Ende ab und trinke den Inhalt im Beutel der Schale. Genial einfach. Beutel fallen lassen, eine Kuh wird kommen“.
Matthias Groll ist als Tourist im Land, Indien hat er mehrfach bereist. Er beobachtet die Fremde mit soziologischem Blick und ist verblüfft von der Intensität des dominierenden Hinduismus: Die Religion gibt Weitblick in Raum und Zeit und immunisiert so manche Not. Die Aussicht auf Wiedergeburt, Sinn stiftende Götter, altbewährte Rituale und eine beeindruckend bunte Schöpfungsgeschichte prägen den Alltag.
Religion als Abenteuer. Das Buch nähert sich Indien zunächst über einen Jungen, der in einem Restaurant irgendwo in der Pampa arbeitet, im alten Höhlentempel von Ajanta wird dann das Altertum lebendig und in einem Wüstenort Rajasthans tanzt Shiva am Lagerfeuer. Groll macht sich über den Tourismus in Goa lustig, er folgt dem Leben in einer Kleinstadt, erleidet in Varanasi Kulturschock und lernt schließlich im Himalaya Babas kennen, die von ihrem Weg ins Nirvana berichten.
Nach und nach wird er mit den Göttern vertraut. Und er erlebt eine sympathisch selbstbewusste Gesellschaft, deren Diesseits in einem Maß vom Jenseits und von alten Legenden geprägt ist, wie man das im Westen nicht kennt. Den Tiefgang des Religiösen beschreibt Groll in heiterer Gelassenheit. Er arbeitet aus alltäglichen Erlebnissen ein Extrakt der hinduistischen Befindlichkeit heraus.
„Babaji ging ins Zimmer, holte den Dreizack aus der Feuerstelle und reichte ihn mir. Der 30 Zentimeter hohe Stab aus Messing symbolisiert mit den drei Gabeln am oberen Ende Shivas mögliche Zustände als Schöpfer, Erhalter und Zerstörer. Wie, du gibst mir den Dreizack, das Heiligste deines Raumes, mal eben so!? Na klar, so Babaji, aktuell habe der Dreizack keinerlei Bedeutung, keinerlei Kraft, es sei ein Stück Metall und so wertlos wie ein Nagel. Erst die rituelle Ansprache würde ihn bedeutsam machen und es ermöglichen, durch ihn mit Shiva in Kontakt zu treten.“
Zwischen Reizüberflutung, Tempelbesuchen, kulinarischen Höhepunkten, turbulenten Bus- und Zugfahrten, goldenen und finsteren Zeitaltern, Fatamorganen, Bollywood, der Wirkung des Ohm und extremer Askese deutet Groll immer wieder auf die Religion des Hinduismus als Grund für die gute Laune im Land. „Inder lachen selbst dann, wenn es nichts zu lachen gibt“.
Dem Laien vermittelt das Buch die Komplexität einer leidenschaftlichen Lebensnormalität, Indienkenner werden Kulturessenzen wiedererkennen und auch Gesellschafts- und Religionsinteressierte werden gut unterhalten. Auch Inder dürften Gefallen finden, da aus dem Indischen heraus auch das westliche Denken reflektiert wird. Frei von esoterischen Allüren öffnet sich der Autor dem allzu menschlichen Bedürfnis, mit dem Kosmos und der Gesellschaft eins werden zu wollen.